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#crossposting: Offene Bildungsressourcen (OER) an Universitäten und Hochschulen: Plädoyer für eine didaktische Sicht

Der folgende Beitrag geht auf eine Anfrage der Wikimedia zurück. Da der Artikel ohnehin frei zugänglich ist, nutze ich gerne die Gelegenheit, ihn wortgleich auch bei mir zu posten (zur Quelle im Original).

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Offene Bildungsressourcen (OER) an Universitäten und Hochschulen: Plädoyer für eine didaktische Sicht

Wie wahrscheinlich ist es, dass offene Bildungsressourcen – kurz OER – akademisches Lehren und Lernen verändern? Nach Aussage der Autoren des aktuellen Whitepapers zu „Open Educational Resources (OER) an Hochschulen“ (Deimann, Neumann und Muuß-Meerholz, 2015) unwahrscheinlich. Dennoch lohnt es sich, danach zu fragen, welche Auswirkungen die Auseinandersetzung mit und über OER im Hochschulkontext insbesondere für Studium und Lehre haben könnte. Wie lässt sich die Diskussion vor allem mit einer (hochschul-) didaktischen Sicht verbinden?

Einführung und Stand der Diskussion

Was für eine kleine Gruppe interessierter Forschender und Praktiker_innen seit über einem Jahrzehnt selbstverständlich ist, steht seit etwa drei Jahren auch auf der bildungs- und hochschulpolitischen Agenda weit oben: die Beschäftigung mit offenen Bildungsressourcen (OER). Als offen und frei zugängliches Material sollen sie den Zugang zu didaktisch aufbereiteten Inhalten erleichtern und Einblicke in Lernen und Arbeiten in Bildungseinrichtungen geben. Vorreiter für Universitäten und Hochschulen war sicherlich das Massachusetts Institute of Technology (MIT): Im MIT OpenCourseWare werden Lehr-Lerninhalte schon seit 2002 als offene Bildungsressourcen frei zur Verfügung gestellt. Mit dem Aufkommen der Massive Open Online Courses (MOOCs) wurde die Debatte um offene Bildungsressourcen in der Breite entfacht: National wie auch international stellt sich die Frage, wie man unter gegenwärtigen technischen und rechtlichen Bedingungen auf (öffentliches) Wissen zugreifen kann und welche Rolle Bildungseinrichtungen dabei spielen. Sind sie bspw. dafür verantwortlich, in ihnen entstandenes Wissen stets frei und offen zur Verfügung zu stellen? Ein Schwerpunkt in der Diskussion liegt daher im offenen Zugang zu Wissen, eine Forderung der Open Access (OA)-Bewegung, die seit ihrer Initiierung große Erfolge aufweist. So ist beispielsweise am 17. April 2015 in einem Spiegel-Artikel von einem „wegweisenden Urteil“ zu lesen: Demnach dürfen Uni-Bibliotheken alle Bücher digital anbieten. Der Weg zu einem freien und offenen Zugang zu Wissen und Informationen in Universitäten und Hochschulen ist demnach bereitet. Für offene Bildungsressourcen auch?

Die OA- und die OER-Bewegung basieren zwar auf denselben Prinzipien, die mit den Leitideen der 5R im Sinne des Open Content beschrieben werden: Es geht um

  1. das Recht, eigene Kopien von bestehenden Inhalten zu machen (Retain),
  2. das Recht, Inhalte wiederzuverwenden (Reuse),
  3. das Recht, Inhalte für eigene Zwecke anzupassen (Revise),
  4. das Recht, Inhalte unterschiedlicher Art zu vermischen (Remix) sowie
  5. das Recht, Kopien dieses neu entstandenen Inhalts wieder zu verbreiten (Redistribute).

Ein Unterschied findet sich aber doch: Während OA vor allem die Zugänglichkeit zu Büchern und anderen, textbasierten Veröffentlichungen regelt, setzt die OER-Bewegung darauf, dass didaktisch aufbereitetes Material der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird. Sie zeichnet an dieser Stelle ein ausgeprägter, beinahe idealistischer Gemeinwohlcharakter aus. Gleichzeitig nimmt die Bewegung durch den Fokus auf aufbereitetes Material selbst eine Einschränkung für den hier zugrunde liegenden Kontext Universitäten bzw. Hochschulen vor: In den Blick geraten vor allem solche digitalen Materialien, die für Lehre und Studium entstanden sind. Darunter fallen Lehrbücher genauso wie ganze Lehrveranstaltungen, in denen digitale Ressourcen entstanden sind oder die selbst digital z.B. in Form eines MOOCs vorliegen. Solche definitorischen Abgrenzungen sind hilfreich, um den tatsächlichen Stand von OER an Universitäten und Hochschulen zu begreifen. Sie machen beispielsweis klar, warum sich derzeit ein technischer, infrastruktureller oder auch bibliothekarischer Schwerpunkt in der Debatte ergibt: Orientiert an der Schwesterdebatte um OA wird vor allem nach nachhaltigen Möglichkeiten gesucht, didaktisch aufbereitetes Material digital zur Verfügung zu stellen. Dass hier Technologien genauso zum Einsatz kommen wie etablierte und neue Standards aus der Bibliothekswelt, dürfte klar sein und die disziplinäre Verortung der Debatte erklären.

Von dieser Schwerpunktsetzung gehen auch Deimann, Neumann und Muuß-Meerholz (2015) in ihrem kürzlich erschienenen Whitepaper zu „Open Educational Resources (OER) an Hochschulen“ aus. Sie konstatieren aber zugleich, dass sich die gesamte Debatte um OER an Hochschulen noch in den Kinderschuhen befindet. Obschon es nicht an Leuchtturmprojekten fehlt, mangelt es vor allem an dem Willen und den persönlichen wie auch technischen Ressourcen, Bildungsmaterialien in der Breite zur Verfügung zu stellen. Die Autoren des Whitepapers kommen allerdings zu dem Schluss, dass offene Fragen zu umfangreichen Infrastrukturen für digitales Bildungsmaterial oder Qualitätssicherungsinstrumente bald geklärt sein dürften. Doch so manch andere Frage bleibt nach Ansicht der Autoren unbeantwortet, darunter die Frage nach dem Einsatz von OER für das akademische Lehren und Lernen.

Leerstellen in der gegenwärtigen Diskussion

Es ist erstaunlich, dass insgesamt nur wenige normative Zielvorstellungen existieren, wozu Bildungsmaterialien digital vorliegen sollten. Zwar wird regelmäßig postuliert, „Bildung für alle“ solle ermöglicht werden. Selten werden aber weitere Szenarien für akademische Kontexte entworfen, wie man mit den frei und offen zugänglichen Bildungsmaterialien auch studieren könnte. Denn eins dürfte klar sein: Die Verfügbarkeit des Materials allein sorgt nicht dafür, dass damit auch gelernt wird. Es dient allenfalls einer kleinen Gruppe Engagierter dazu, sich im eigentlichen Sinne zu bilden. An dieser Stelle kommen Bildungsinstitutionen wie Universitäten und Hochschulen zurück ins Spiel: Sie bieten Lehr-Lernkontexte an, innerhalb derer gelernt wird – ganz gleich, ob mit OER oder mit anderen Materialien. Entsprechend stellt sich für Universitäten oder Hochschulen weniger die Frage danach, welches Material für Lernen und Bildung genutzt wird – dies wird ohnehin stark über das Fach oder die zugehörige Disziplin bestimmt. Vielmehr ist danach zu fragen, in welchen didaktischen Szenarien sich Optionen zur Nutzung, aber eben auch zur Weiterentwicklung von Bildungsmaterialien jeglicher Art ergeben.

Stellt man sich diese Frage(n), gelangt man rasch zu einer älteren didaktischen Diskussion darum, welche Rolle die eigene Wissensproduktion in Hochschulen gegenüber der Rezeption bestehenden Wissens spielt (vgl. Mayrberger und Hofhues, 2013, S. 57). Übersetzt in den Kontext der OER-Diskussion ginge es dann vor allem um offene Bildungspraktiken (OEP): Wie gestaltet sich akademisches Lehren und Lernen, wenn dort freie und offene Bildungsmaterialien zum Einsatz kommen? Welche Bedeutung haben dann Kollaboration und Vernetzung von Lernenden? Wie realistisch wären offene Curricula, wonach sich Studierende ihre Lerninhalte komplett selbst zusammenzusuchen bzw. -stellen? Welche Fähigkeiten würden bei Lernenden adressiert, wenn die Verantwortung für ihr Lernen und ihre Bildung komplett auf ihren Schultern lastet? etc.

Geht man von einer solchen durchschlagenden Kraft der OER-Bewegung aus, könnte sich auch akademisches Lehren und Lernen verändern. Dieser massive Wandel ist aber, Stand jetzt, unwahrscheinlich (Deimann et al., 2015, S. 55), denn: In Forschung und Lehre haben sich über die Jahrhunderte bestimmte Handlungspraktiken ausgeprägt, die von der Verfügbarkeit von Wissen und Information lediglich technisch-funktional beeinflusst werden. So kann man als Wissenschaftler_in bedeutend besser, schneller und umfangreicher über digitale Medien auf Wissen und Information zugreifen, die benötigten Fähigkeiten in der Recherche und der Bewertung dieser Information ändern sich aber nicht grundlegend. Kooperation und Vernetzung ist auch in der prä-digitalen Zeit für den wissenschaftlichen Diskurs von zentralem Wert gewesen – heute findet diese dann vornehmlich vermittelt über digitale Medien statt. Somit lassen sich zwei Leerstellen ausmachen, die in der bisherigen Debatte um OER wenig bearbeitet werden: 1) Vor allem wäre es wichtig, die gegenwärtige Diskussion in Richtung der OEP zu weiten. OER würden so als Grundlegung für OEP verstanden (Mayrberger und Hofhues, 2013). Auf diese Weise würde auch eine didaktische Zielrichtung für die Debatte ausgegeben, die derzeit noch nicht vorhanden ist. 2) Überdies könnte es von zentraler Bedeutung sein, sich über die Auseinandersetzung mit OER solchen Lernzielen zu nähern, die im Kontext akademischen Lehrens und Lernens seit jeher von zentraler Bedeutung sind: z.B. die Ausbildung von Medien- und Informationskompetenzen bei Lehrenden und Studierenden. Wie man Wissen und Information nämlich recherchiert, bewertet, wieder aufbereitet und (später) gegenüber der wissenschaftlichen Gemeinschaft kommuniziert, hat sich über die Jahrhunderte als ein Kern des Studiums ausgeprägt. Konstituierend sind dafür der Wissenschaft inhärente Elemente wie Kritik bzw. kritisches Denken, Austausch und Diskurs.

Mögliche Szenarien zum Einsatz von OER in Universitäten und Hochschulen

Bereits deutlich wurde, dass die Diskussion um OER eigentlich eine didaktische sein sollte, die didaktische Beschäftigung mit OER/OEP aber seit Jahren zu kurz kommt (vgl. dazu auch Zauchner und Baumgartner, 2007). Hier stellt sich dann primär die Frage, wie mit diesem Material gelernt werden kann oder bereits gelernt wird. Von daher lohnt sich der Blick auf zwei beispielhafte Szenarien, die klar machen dürften, in welche Richtung sich eine didaktisch konturierte Diskussion mit/um OER bewegen könnte.

Szenario 1: Lehrende stellen ihre Forschungstexte zur weiteren Be- und Verarbeitung in Lehrveranstaltungen zur Verfügung

Akademisches Lehren und Lernen ist zentral davon geprägt, dass Wissensvermittlung an Universitäten und Hochschulen nur unter Einbezug von Forschung stattfinden sollte und die Auseinandersetzung mit Forschung persönlich bildet. Zugrunde gelegt wird dazu die Idee der Bildung durch Wissenschaft. Übersetzt wird sie in „Spielarten“ forschenden Lernens (Reinmann, in Druck), also in didaktische Szenarien, die Studierenden ermöglichen, ihren eigenen (Forschungs-) Fragen in Vorlesungen, Seminaren oder Projekten nachzugehen. In allen Spielarten forschenden Lernens wäre es nun möglich, dass Studierende an Forschungstexten ihrer Lehrenden oder der wissenschaftlichen Gemeinschaft arbeiten und diese beginnen zu hinterfragen, eigene Fragen daran sammeln oder Artefakte mit den Lehrenden weiterentwickeln. Zumindest drei der oben genannten 5R-Prinzipien (Retain, Reuse, Revise) ließen sich durch die weitere Verarbeitung vorliegenden Forschungsmaterials problemlos umsetzen.

Erst die weitere Verarbeitung und Veröffentlichung (Remix, Redistribute) dürfte Lehrenden wie Forschenden schwer fallen, da es sich hier nicht mehr um die weitere Verwendung des Forschungsmaterials für Lernzwecke handelt, sondern deren Bewertung und Begutachtung in den Bereich der Forschung selbst fällt. Kopien haben dort aber – ebenso wenig wie Mashups – keinen Wert (Gehlen, 2011). Sie könnten allenfalls einen persönlichen Nutzen für die beteiligten Lehrenden und Studierenden erzeugen, wenn nämlich durch die gemeinsame Beschäftigung interessante neue Forschungsfragen erzeugt werden, wenn Fehler in der Forschung aufgedeckt werden oder wenn sich Studierende schlicht zu Co-Forschenden entwickeln.

Szenario 2: Lehrende produzieren mit Studierenden offene Bildungsmaterialien

Problemorientierter als Szenario 1 ist Szenario 2: Es rekurriert nur mittelbar auf die Idee der Universität und greift stattdessen eher eine praxisorientierte Sichtweise auf, die sich besonders für solche Studiengänge eignet, in denen Studierende für pädagogische Berufe ausgebildet werden. So könnte es für Studierende und spätere pädagogische Fachkräfte von zentraler Bedeutung sein, einmal selbst digitales Bildungsmaterial zu erstellen und gewissermaßen am Material ihre Medien- und Informationskompetenzen zu entwickeln. Offene Bildungsmaterialien würden dann beispielsweise an Universitäten und Hochschulen produziert und kämen jetzt oder später in anderen Bildungseinrichtungen (z.B. Schulen) zum Einsatz. Für Konzepte dieser Art gibt es bereits Namen: Sie lassen sich als medienpraktische Kurse bezeichnen oder sehen sich dem Dienst an der Gemeinschaft im Sinne des Service Learning verpflichtet. Die so entstehenden (digitalen) Ressourcen (OER) sind speziell für didaktische Kontexte gedacht und es nicht nur wünschenswert, sondern geradezu erwünscht, sie auch zu erproben, gemeinsam weiterzuentwickeln und beständig neu auf dafür gedachten Plattformen im Internet zu veröffentlichen.

Die beiden vorgestellten Szenarien könnten unterschiedlicher kaum sein, greifen sie doch eine eindeutig forschungsorientierte und eine eindeutig praxisorientierte Sichtweise auf akademisches Lehren und Lernen auf. Sie sind jedoch nicht gänzlich unvereinbar: So könnte eine forschungsorientierte Auseinandersetzung mit und über OER immer auch einen praktischen und theoretischen Gehalt haben. Auch ließen sich eher problem- und praxisorientierte Szenarien um Forschungskomponenten anreichern, wenn man bedenkt, dass die studentische Wissensproduktion für das forschende Lernen ebenfalls zentral ist.

Fazit

Es dürfte von herausragender Bedeutung sein, die bisherigen Debatten um OER an Deutschlands Universitäten und Hochschulen didaktisch zu rahmen. Zwei denkbare Szenarien für den Einsatz von OER in Universitäten und Hochschulen wurden deshalb vorgestellt und in Bezug zur hochschuldidaktischen Diskussion gesetzt. Diese Bezugnahme ist wichtig, damit die OER-Diskussion in Universitäten und Hochschulen Gehör findet, aber auch zur Weiterentwicklung von Studium und Lehre beiträgt. Immerhin bietet sie das Potenzial, Studierenden und Lehrenden in forschungs- und problemorientierten Lehrveranstaltungen wichtige Studien- und Lehrerfahrungen zu ermöglichen.

Literatur

  • Deimann, M., Neumann, J. & Muuß-Meerholz, J. (2015). Whitepaper Open Educational Ressources (OER) an Hochschulen in Deutschland – Bestandsaufnahme und Potenziale 2015. Berlin: Transferstelle für OER mit freundlicher Unterstützung des Stifterverband für die Deutsche Wissenschft.
  • Gehlen, D. (2011). Mashup – Lob der Kopie. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Mayrberger, K. & Hofhues, S. (2013). Akademische Lehre braucht mehr „Open Educational Practices“ für den Umgang mit „Open Educational Resources“ – ein Plädoyer. Zeitschrift für Hochschulentwicklung, 8(4), 56–68.
  • Reinmann, G. (in Druck). Forschungs- und Berufsorientierung in der Lehre aus hochschuldidaktischer Sicht. Erscheint in P. Tremp (Hrsg.), Forschungsorientierung und Berufsbezug im Studium (Blickpunkt Hochschuldidaktik). Bielefeld: W. Bertelsmann.
  • Zauchner, S. & Baumgartner, P. (2007). Herausforderung OER – Open Educational Resources. In Merkt, M., Mayrberger, K., Schulmeister, R., u. a. (Hrsg.) Studieren neu erfinden – Hochschule neu denken. Reihe Medien in der Wissenschaft (S. 244–252). Münster: Waxmann.

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