Lost im Wiki

In jedem didaktisch geprägten Buch findet sich ein kurzer Abschnitt zu Prüfungsformen, die bei alternativen didaktischen Szenarien anzupassen sind. Diese Feststellung wird jede/r unterschreiben, denn klassische Prüfungen wie Klausur und Hausarbeit entsprechen kaum dem, was man als Lern- und Kompetenzziele bspw. mit offenen Lernumgebungen verbindet und wie man diese didaktisch aufbaut bzw. strukturiert. Dennoch sind es gerade die Prüfungsformen, die als Lehrende immer wieder Bauchschmerzen bereiten: Man muss sich mit der Prüfungsordnung auseinandersetzen, wie ich überhaupt prüfen darf, man muss kreativ werden, um über den Tellerrand bekannter Möglichkeiten zu schauen, und man muss selbst auch ein wenig neugierig sein, zu welchen Prüfungsleistungen Studierende im Stande sind, wenn man sich von bewährten Formaten konsequenterweise löst. Nun deutet die Überschrift dieses Beitrags bereits an, dass dieses Lösen vom Gewohnten keineswegs einfach ist, schon gar nicht aus Lehrendensicht: Wie bewertet man bspw. digitale Prüfungsleistungen, die keine lineare Struktur aufweisen, wie findet man sich selbst darin zurecht? Erst kürzlich stand ich selbst wieder vor der Herausforderung, ein Wiki zu bewerten, das durch die hypertextuelle Struktur überzeugen sollte (so mein eigens gestellter Arbeitsauftrag). Was dann in der Phase der Bewertung folgte, war eher ein Gefühl von „Lost“ als die totale Begeisterung über die vernetzte Darstellungsform. Und das ist schon einigermaßen erstaunlich, wenn man seit Jahren veränderte Prüfungsformen anbietet und diese auch korrigiert und bewertet. Was lerne ich daraus? Wer sich alternative didaktische Szenarien ausdenkt und auch Prüfungsformen dahingehend anpasst, muss nicht nur mit fragenden Studierenden und ihrem Gefühl von Unsicherheit umgehen, sondern zuvorderst sich selbst daran erinnern, warum eine veränderte Prüfungsform (mit oder ohne digitale Medien) zu diesen Szenarien gehört, und zwar zwingend!

Reform der Reform

Gerade komme ich vom Forum der Lehre der TU München, das in diesem Jahr mit dem Titel „Reform der Reform“ überschrieben war. Zum Thema eingeladen war Dr. Peter Wex, der 30 Jahre lang als Jurist im Hochschulkontext tätig war, wie er mir im persönlichen Gespräch sagte, bevor er sich nochmals neu orientiert und die Arbeitsstelle für Bildungsrecht und Hochschulentwicklung an der FU Berlin gegründet hat. Seitdem beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der Bologna-Reform und blickt ein Stück weit hinter die zahlreichen Dokumente und politisch-systemischen Zusammenhänge, die sich seit der „wohl größten Bildungsreform seit Humboldt“ ergeben haben.

In seinem Vortrag in den sehr schönen Räumlichkeiten der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung hat er vor allem die Reformierungen seit den Bildungsstreiks 2009 beleuchtet, die bottom-up die „Reform der Reform“ eingeleitet haben dürften. In seinem mit vielen amüsanten Untertönen gespickten Vortrag hat Wex dann drei Aspekte der Bologna-Reform besonders herausgehoben: (1) die Prüfungsleistungen, (2) die Regelstudienzeit und (3) die Studierbarkeit. Sie alle stünden bei Bologna im Kern und seien auch Dreh- und Angelpunkt der Neuorientierung der Hochschulreform, die durch die Vorgaben von HRK/KMK angeregt wurden.

Der Vortrag über die drei Punkte war dabei für mich nicht neu, sodass ich den Kern jedes Punkts an dieser Stelle nicht wiederholen will. Überraschend war vielmehr, dass Steilvorlagen für alternative Assessment-Verfahren und für E-Learning vom Publikum nicht einmal im Ansatz aufgegriffen wurden. Vielmehr stand die „Workload-Illusion“ im Zentrum der anschließenden Diskussion, also wie sich der Workload über das Semester bzw. ein Studienjahr verteilt und dass man bestimmte Leistungen von Studierenden durchaus einfordern kann. Aus meiner Sicht wurde Wex hier falsch verstanden, denn seine Rechnung, wonach Studierende im Studienjahr 1.800 Stunden für ihr Studium aufbringen müssten (60 Leistungspunkte à 30 Stunden), ist formal richtig und spricht etwas an, was ich auch beobachte: In vielen Bachelor- und Masterstudiengängen werden die meisten Prüfungsleistungen innerhalb der Vorlesungszeit erbracht. Allein die eine oder andere Hausarbeit kann erst später abgegeben werden. Dies führt dazu, dass Workloads zu großen Teilen in weitaus weniger Zeit erfüllt werden müssen, als dies formale Rechnungen über ein Jahr verteilt vorsehen. Konsequenz ist: Die Studierenden sind gestresst angesichts des Pensums, das sie zu leisten haben.

Über alternative Assessment-Formen, die diese Überforderung abmildern könnten und etwa den Lernprozess in die Bewertung einbeziehen, wird dagegen nur selten diskutiert; auch E-Learning als Möglichkeit, Selbststudium und Gruppenlernen zu unterstützen, wird im Prinzip nicht mitgedacht – was daran liegen mag, dass man auf diese Weise auch Präsenzlehre grundsätzlich „anders als sonst“ aufziehen müsste. Dies ist aus meiner Sicht der nach wie vor präsenten instruktionsorientieren Einstellung der meisten Lehrenden zu schulden. Insofern bin ich etwas ernüchtert aus dem Vortrag gegangen, der mit dem Aufstand des (Studierenden-) Volks und seiner Wirksamkeit an sich so gut begonnen hatte.