Das Warten hat sich gelohnt

Wer selbst einmal ein Buch herausgegeben hat, weiß sehr genau, wie lange sich die Herausgabe manchmal ziehen kann. Ich freue mich daher sehr, dass in diesen Tagen (endlich) das Buch „Medien, Bildung und Wissen in der Hochschule“ von Andreas Weich, Julius Othmer und Katharina Zickwolf erschienen ist. Es ist im Nachgang der Verflechtungen-Tagung 2015 (ehem. CfP) an der TU Braunschweig entstanden. Der Tagungsbezug und das Wissen um diverse Verflechtungen von Medien an der Hochschule führt sicherlich auch zu diesem leicht ungewöhnlichen inhaltlichen Zuschnitt des Buchs. Weil Fragen von Medien aber längst querliegend an Hochschulen bearbeitet werden, liegt darin m.E. auch der größte Wert des Bandes. So findet sich im Buch eine (m.E.) ungewöhnliche Kombination von Beiträgen, die größtenteils fach- und diskursübergreifend gestaltet sind.

Zusammen mit Mandy Schiefner-Rohs habe ich für diesen Band einen Essay zu „prägenden Kräften“ beigesteuert. Wir haben die Form des Essays bewusst gewählt, um – wie es die Hrsg. formulieren – explorative Überlegungen mit hochschulischem und gesellschaftlichem Bezug darzustellen. Konkret beschäftigen wir uns im Text damit, wie derzeit über Medien an Hochschulen nachgedacht wird und welche expliziten und impliziten Vorstellungen bzw. Diskurslinien darin sichtbar werden. So fragen wir uns angesichts der vielfältigen öffentlichen Debatten um Digitalisierung, ob das Internet eigentlich gerade erst erfunden wurde. Auch geben wir den Tipp, einmal Kolleg*innen zu fragen, was sie unter E-Learning verstehen. Wir vermuten, darunter wird oft gleichlautend das hiesige LMS verstanden. Und ja, wir beschäftigen uns auch mit dem Zusammenhang der Studienstrukturreformen von Bologna und der gegenwärtigen Lesart von Digitalisierung an Hochschulen, insbesondere der Hochschullehre. Insofern geht es im Essay auch um neues-altes Lernen und eine dringend nötige differenzierte Auseinandersetzung mit Medien/Technologien diesseits und jenseits schicker Begrifflichkeiten.

Auf Anregungen, Kommentare und gemeinsames Weiterdenken der manchmal sehr ernst gemeinten Ausführungen freuen wir uns sehr.

Was ist eigentlich: der „Sudoku-Effekt“?

Heute war ich an der Universität Hamburg, um den Ausführungen von Stefan Kühl zum „Sudoku-Effekt“ zu lauschen. Zum ersten Mal hatte ich auf der Campus Innovation 2011 von der gleichnamigen Publikation gehört, als Stefan Kühl neben weiteren auf dem Abschlusspodium saß und bereits von den Irrungen und Wirkungen der Bologna-Reform aus (organisations-)soziologischer Sicht berichtet hat. Ein paar Wochen später fand sich in der Forschung & Lehre ebenfalls ein (knapper) Artikel über selbiges Thema (siehe dazu auch Gabis Post), der mich letztlich auch dazu motiviert hat, das Buch zu erwerben. Noch nicht ganz durch mit dem Text „trudelte“ gestern kurzfristig die Einladung zu seinem Vortrag hier in Hamburg „ein“, die ich dann auch sehr gerne wahrgenommen habe.

Der Vortrag selbst setzte ein soziologisches Grundverständnis ebenso wie Kenntnisse über die Reformbemühungen von Bologna und jüngerer Entwicklungen voraus, wenn ich es mit zeitlichem Abstand nochmals betrachte, denn: Vor allem von den anwesenden Studierenden wurde in der Diskussion die mangelnde Betrachtung der Inhalte beim „Sudoku-Effekt“ angesprochen bzw. eine entsprechende Fokussierung auf Inhalte und Interessen von Personen/Gruppen (anstelle der Beobachtung und Analyse von Strukturen) eingefordert. Bei allem Verständnis für diese Forderung lag das Interessante der dargestellten Perspektive doch mehr auf dem Strukturell-Analytischen, d.h. dem Ableiten von Effekten aus akteursbezogenen und organisationalen Zusammenhängen. Entsprechend ist auch der Sudoku-Effekt als Namensspender für Vortrag und Buch zu verstehen: In Analogie zu den Sudoku-Rätseln erklärte Kühl recht nachvollziehbar, wie Studiengangsplanung infolge von Modularisierung und (insbesondere) ECTS in diesen Zeiten vor sich geht. Er stellte heraus, dass jene immer weniger didaktisch motiviert sei und stattdessen vielmehr die Passung von Prüfungen in den Gesamtplan eines Studiengangs fokussiert werde. Auf diese Weise leitete er auch den Sudoku-Effekt ab, der nämlich die inhaltliche Selektion von Veranstaltungen, Inhalten und Prüfungsleistungen überlagert und einen möglichen Erklärungsansatz für die Bologna zugeschriebene Verschulung liefert. Diese machte er abschließend an drei Kernüberlegungen fest: (1) an einer wachsenden Zahl an Vorlesungen, (2) an einer Inflation von Prüfungen sowie (3) an einer deutlichen Einschränkung der (studentischen) Wahlmöglichkeiten.

Die Grundannahmen und Ausführungen des Vortrags waren in jedem Fall interessant, wenn man sich auf die soziologische Sichtweise auf ein an sich eher pädagogisch-didaktisches Thema einlässt. Gleichzeitig sind die zuletzt skizzierten Thesen aus meiner Sicht gewagt, da sie (zumindest im Vortrag) stark auf anekdotischen Erfahrungen basierten. Da muss ich jetzt tiefer ins Buch einsteigen, ob es dort möglicherweise weitere Erklärungsansätze (z.B. Einordnung in die Organisationstheorie oder Ideen für eine empirische Auseinandersetzung) gibt. Ansonsten würde ich mir selbiges für die weitere Diskussion und Vertiefung wünschen.

Zu anders, zu öffentlich, zu anstrengend?

Seit gestern Abend mache ich mich auf Ursachenforschung: Ursachen dafür, dass zum virtuellen Kick-off-Termin meines w.e.b.Square-Seminars in Augsburg außer den Begleitstudiumsteilnehmerinnen und Tutorinnen niemand erschienen ist. Das ist mir in all den Jahren der Lehre noch nie passiert. Natürlich gibt es mal Lehrveranstaltungen, die schlechter besucht sind als andere; im Großen und Ganzen sind es aber immer ausreichend Interessenten, um ein (Block-)Seminar auch durchzuführen. Dies galt und gilt selbst für die Lehrveranstaltungen, die didaktisch „anders“ strukturiert sind als klassische Seminare mit Referat und Hausarbeit, die andere Lern- und Kompetenzziele verfolgen, welche entsprechend auch anders geprüft werden. Im Fall von w.e.b.Square ist dies schon seit Jahren eine Kombination aus der Anfertigung eines wissenschaftlichen Artikels, der bei w.e.b.Square – dem gleichnamigen Undergraduate Research Journal – online gestellt und einem offenen Peer Review aus internen und externen Gutachtern unterzogen wird. Dieser Artikel wird in kurzer Zeit eines Semesters erstellt, hat meist etwas mehr theoretisch-konzeptionelle Anteile als empirische und wird – wie im Wissenschaftsbetrieb üblich – auf einer (studentischen) Tagung präsentiert, die vor Ort und im Netz öffentlich zugänglich ist. Das Seminar endet mit einer kritischen Reflexion und Evaluation, die auch schriftlich (kurz) durch die Studierenden festgehalten wird. Mal mehr, mal weniger integriert werden in das Seminar Elemente von Web 2.0, da die gestellten Anforderungen bereits so umfangreich sind, dass jegliche Form von Vernetzung und öffentlicher Reflexion nochmals eigene und anspruchsvolle Anforderungen an die Studierenden stellt. In Summe ist w.e.b.Square also ein anstrengendes Seminar, das will ich nicht verschweigen, und allein die Ergänzung meiner Person um Co-Dozentinnen, Tutorinnen oder Begleitstudiumsteilnehmer zeigt schon seit nunmehr sechs Jahren, dass der Aufwand nicht nur auf Studierendenseite hoch ist, auch die Erwartungen und Anforderungen an die Betreuung und Begleitung der Studierenden sind deutlich größer als bei herkömmlichen Lehrveranstaltungen. Dennoch hat dieses Paket nie „gestört“, im Gegenteil: Es traf den Nerv des MuK-Studiengangs und passte gut zu den Interessen der Studierenden, die vielfach an der Schnittstelle von kommunikations- und bildungswissenschaftlichen Fragestellungen lagen und liegen. Nun wird es dieses Semester kein w.e.b.Square-Seminar geben. Das ist schade, aber nicht zu ändern, da das Projekt zwar lange meins war, aber mit meinem Weggang natürlich in andere Hände gelegt werden musste. Auch kann ich aus der Ferne lediglich vage analysieren, was mögliche Ursachen für fehlendes Interesse an der Lehrveranstaltung sind. Curriculare Veränderungen können eine Ursache sein, werden aber sicher nicht allein dafür verantwortlich sein, dass die Veranstaltung in diesem Semester nicht zustande kommt.

Kompetenzentwicklung unter vernetzten Bedingungen: die 4. w.e.b.Square-Tagung

Unfassbare eineinhalb Wochen liegen schon wieder zwischen der 4. w.e.b.Square-Tagung und dem heutigen Tag. Unfassbar ist das deswegen, weil in der Zwischenzeit so viele Dinge über meinen Tisch gewandert sind, dass ich kaum Zeit hatte, die Geschehnisse zu reflektieren. Ganz stimmt das natürlich nicht, denn die Abschlusssitzung im Seminar, in der es traditionell eine Feedbackrunde gibt, hat bereits stattgefunden. Die Resonanz auf die Tagung, so viel vorne weg, war insgesamt sehr positiv, weswegen mein Bild davon heute vielleicht verzerrter ist als sonst, wenn ich noch im Anschluss an die Konferenz meine Gedanken niederschreibe. Vielleicht ist der Abstand aber gerade gut, um stärker von Einzelergebnissen zu abstrahieren. Ohne Frage bleiben nämlich drei größere Eindrücke von der Tagung zurück, die sich überschreiben lassen mit Kompetenzentwicklung, Vernetzung und Technikchaos. Dass alle drei miteinander zusammenhängen, liegt nahe, denn das w.e.b.Square-Seminar ist komplex und wächst mit jeder Idee, die wir noch in die Veranstaltung integrieren.

1. Kompetenzentwicklung
Was mich jedes Jahr auf’s Neue beeindruckt und (als Lehrende) auch ein bisschen stolz macht, ist die fachliche und die persönliche Entwicklung der Studierenden, die man in einer einzelnen Lehrveranstaltung beobachten kann. Während die Studierenden zu Beginn des Seminars noch unsicher sind, wachsen sie über einen klar definierten Zeitraum in ihre Rolle als (künftige) Referenten und Experten für ein Thema hinein. Dieses Jahr war das rahmenspendende Thema Bologna – und damit letztlich auch der reflexive Blick auf die eigene Studiensituation. Bologna bewegt mich persönlich schon eine ganze Weile, da ich selbst einen Bachelor- und Masterstudiengang abgeschlossen und mich bereits in einer frühen Phase mit der Hochschulreform auseinandergesetzt habe. Insofern war es für mich spannend zu beobachten, wie heutige Studierende auf Bologna blicken und über die Veränderungen denken – immerhin sind die „alten“ oder auch „traditionellen“ Studiengänge, die vor einigen Jahren noch als steter Vergleich herhalten mussten, inzwischen deutlich unterrepräsentiert. So haben die Studierenden in den letzten rund drei Monaten eine reflexive Haltung gegenüber Bologna entworfen, die dabei hilft, differenzierter über die Hochschulreform und aktuelle (An-)Forderungen an die Universität nachzudenken. Was uns als Lehrende vielleicht nicht so bewusst ist: Unter aktuellen Studierenden haben speziell die Studierendenproteste dazu beigetragen, dass diese eher schlecht über Bachelor und Master zu denken – ohne eigentlich zu wissen, woher dieses Bild resultiert und ob es vielleicht einseitig sein könnte. Aber auch auf Ebene der einzelnen Vorträge hat sich ein deutlicher Wissenszuwachs abgezeichnet. Das merkt man meist daran, wie sicher sich die Studierenden auf der Tagung bewegen und auf Fragen antworten. Dafür mussten sie allerdings auch hart arbeiten. Denn durch das angeschlossene Peer Review kann man über die Zeit sehr gut sehen, wie sich die einzelnen Studierenden im Team entwickeln. Besonders aufgefallen ist mir dieses Jahr allerdings die Homogenität der ganzen Seminargruppe, was sich besonders (aber nicht nur) in den allseits sehr guten Leistungen zeigt.

2. Vernetzung
Bei der diesjährigen w.e.b.Square-Tagung haben wir ein Experiment gewagt, auf das ich mich im Vorfeld sehr gefreut habe: die Vernetzung unseres Augsburger Seminars mit Medienpädagogik-Studierenden der Universität Mainz. Vermutlich habe ich mich deshalb so auf die Zusammenarbeit gefreut, weil man das an der Universität selten macht und diese Form der Vernetzung auch eine große Herausforderung für Lehrende darstellt. Zudem findet Öffnung über die Grenzen einzelner Universitäten hinaus selten und meistens als „reines“ E-Learning statt, wo die Raum- und Zeitdimension nochmals eigens definiert wird. Außerdem ist Vernetzung aufwendig: Sie erfordert Abstimmung auf allen Seiten, insbesondere aber auch bei der Planung von Lehre, sodass die Telefonkosten von uns Lehrenden ohne beruhigende Flatrate im Hintergrund sicher in die Höhe geschnellt wären. Durch die inhaltliche Zielsetzung der Vernetzung, speziell bei den studentischen Peer Reviews zusammenzuarbeiten, war diese auch kein Selbstzweck, sondern hat die jeweiligen Lehrveranstaltungen um reale Austauschmöglichkeiten bereichert. Im Austausch kann man letztlich sogar das gemeinsame Element beider Seminare ausmachen, denn inhaltlich haben wir uns mit Bologna auf der einen Seite und mit Medienpädagogik 2.0 auf der anderen Seite durchaus in unterschiedlichen Bereichen bewegt. Diese passten allerdings doch recht gut zusammen, wie man auf der Tagung sehen konnte und im sehr gelungenen Tagungsband nachvollziehen kann. Auch die Videos zur Tagung sollten bald zur Verfügung stehen.

3. Technikchaos
Wer unser Gast im Livestream war, hat vielleicht kurz vor Beginn der Tagung mitbekommen, dass die Leitung nicht so stabil funktionierte, wie sie sollte. Der Grund dafür ist einigermaßen banal: Obwohl unsere Tagung in einem Informatik-Hörsaal stattfand, gab es nur schwaches W-Lan, auf das wir für den Stream zurückgreifen konnten. Man muss kaum Techniker sein, um mutmaßen zu können, dass dies unter Umständen problematisch ist. Insofern freue ich mich besonders, dass wir mit den AV-Mediendiensten wieder ein professionelles Team „an Bord“ hatten, die mit Gelassenheit auch dieses Problem in den Griff bekommen haben. Infolge der technischen Schwierigkeiten soll der erste, offizielle Begrüßungsteil meiner eigenen Rede leider abgeschnitten worden sein, aber damit kann ich gut leben, wenn dafür alle anderen, studentischen Vorträge komplett ins Netz übertragen werden konnten. Witzig waren auch die Schalten nach Mainz und vor allem die zehn Sekunden Verzögerung, mit der Fragen (und Antworten) aus den Wohnzimmern nach Augsburg übertragen wurden. Ähnlich amüsant war die eine oder andere Stimme aus dem Off, die uns während laufender Vorträge erreicht hat. Dieses bunte Zusammenspiel der Technik würde nun mancher als Chaos empfinden; ich sehe das eher als kreative Unterbrechung, die bei allen Vorträgen Gäste und Referenten bei Laune hält und gleichzeitig offenbart, dass Studieren unter vernetzten Bedingungen auch Unwägbarkeiten bereit hält – allen grundsätzlichen Vorteilen zum Trotz.

Bologna aus Studierendensicht: die 4. w.e.b.Square-Tagung

Morgen ist es wieder soweit: Es ist w.e.b.Square-Tagung! Auf vielen „Kanälen“ wurde schon davon berichtet (siehe z.B. die Medieninformation beim idw), wer die Details noch nicht mitbekommen hat, dem sei ein Blick auf den hübschen Flyer empfohlen (danke an Katharina Uhl für die Unterstützung aus der Ferne!):


Ich freue mich auf eine spannende Tagung zu einem hochgradig politischen Thema und werde mich – wie gewohnt – im Anschluss melden, wie alles gelaufen ist. Denn heute, am Tag zuvor, ist mal wieder „Land unter“. Aber auch das gehört zu Projekten mit eingeschlossenen Events dazu.

Wer nicht vor Ort sein kann, kann sich übrigens gerne live in die Tagung schalten, bei Nennung des Hashtags #websquare Fragen auf Twitter einwerfen und permanent Informationen über Facebook abrufen.

Gelesen: Geschäft versus Wissenschaft, Ausbildung versus Studium

Seitdem öffentlich über die „Reform von der Reform“ debattiert wird, scheint die Kritik an Bologna en vogue. Viele kritische Stimmen fokussieren die Verschulung eines universitären Systems, bemängeln den Verlust an Zeit und die Organisation von Bildung anhand von Prinzipien der Ökonomie. Selten werden jedoch die Folgen von Bologna auf einer Metaebene so diskutiert, sodass man über ein zustimmendes Nicken hinaus ins Grübeln gerät. Einer dieser Artikel, der das (zumindest bei mir) geschafft hat, ist mit „Geschäft versus Wissenschaft, Ausbildung versus Studium – Zur Instrumentalisierung von Hochschulbildung und Universität“ überschrieben und wurde von Paul Kellermann (Bildungssoziologe) verfasst. Die Ausgangsthese des Textes ist dabei, dass „[d]as primäre universitäre Paradigma des Strebens nach Wissen und Wissenschaft […] durch das den politischen Zeitgeist beherrschende Paradigma der Entwicklung von Märkten“ (Kellermann, 2009, S. 47) ersetzt wurde.

Es folgen eine Reihe an Gegenüberstellungen, was Bildung (insbesondere Universität) ausmacht, und wie das Ökonomische (insbesondere Betriebswirtschaftliche) dazu im Widerspruch steht. Besonders kritisch fasst der Autor dabei, dass solche Kontext-„überschwappenden“ Leitideen nicht nur Organisation von Bildung beeinflussen, sondern insbesondere auch den Zugang zu Erkenntnis und Methoden und letztlich auch Handlungen bzw. Machtkonstellationen  beeinflussen. „Auswahlen erfolgen aufgrund wertender Grundeinstellungen.“ (ebd., S. 48) Ähnlich kritisch betrachtet Kellermann die Begriffswelten, mit denen Bildung und Ökonomie gleichermaßen hantieren, jedoch unterschiedlich ausgeprägt umgehen, was oftmals Missverständnisse zur Folge haben kann. Er zeigt an den Beispielen Unternehmertum, Produktivität, Freiheit und Fortschritt, dass diese Begriffe „im Kontext ihrer Paradigmata verschiedene Bedeutungen“ (ebd., S. 51) haben.

Als Folge des Marktdenkens im Bereich Bildung skizziert Kellermann:

„Während die scientific community auf Kooperation beruht, wandeln sich die Beziehungen unter den Universitäten und ihren Angehörigen hin zur Konkurrenz um Studierende, Lehrende, Forschungsausstattungen, Rangplätze auf Listen von „Exzellenz“ und generell um Geldzuwendungen in jeder Form. Die politische Intention, die Chancen Hochqualifizierter in Europa zu fördern, wandelt sich zur „Strategie“, Universitäten und ihre Graduierten als Objekte von Märkten und als Instrumente in globalen Wettkämpfen um Gewinne zu nutzen; aus der Vorstellung eines Europe of Knowledge entstand eine kommerzielle, polit-ökonomische Konzeption.“ (ebd., S. 56–57, Hervorhebung im Original)

In dieser Konzeption von Bildung und Universität wird jedoch ein zentraler Aspekt vernachlässigt, nämlich dass sowohl Schulen als auch Hochschulen jeweils eigene gesellschaftliche Aufgaben erfüllen müssen (ebd., S. 57). Dies betrifft im Besonderen auch die Forschung selbst, die nicht (!) dazu da ist, Geld zu erbringen (ebd., S. 58).

Angesichts dieses widersprüchlichen Verhältnisses kommt Kellermann zu dem Schluss, dass demnächst neue Ordnungen entstehen werden, die beide Paradigmen stärker vereinen als bisher. Denn „Krisis bedeutet nämlich im ursprünglichen Sinn Entscheidung (Menge 1903: 333); günstigenfalls der entscheidende Wendepunkt zu befriedigenderen Arbeitsbedingungen zumindest an Universitäten“ (ebd., S.62).

Fazit. Ein spannender Artikel, der die Diskussion um Bologna fundiert und aus (bildungs-)soziologischer Perspektive Widersprüche im Bereich Bildung und Ökonomie aufzeigt, aktuelle Entwicklungstendenzen skizziert und davon ausgehend Fragen des Umgangs mit einem dialektischen Verhältnis aufwirft. Aufgrund der vielfältigen Zusammenhänge nicht ganz einfach nachzuvollziehen, aber dennoch lohnenswert, sich in diesen Paradigmenstreit zu vertiefen.

Quelle:

Kellermann, P. (2009). Geschäft versus Wissenschaft, Ausbildung versus Studium – Zur Instrumentalisierung von Hochschulbildung und Universität. In P. Kellermann, M. Boni & E. Meyer-Renschhausen (Hrsg.), Zur Kritik europäischer Hochschulpolitik. Forschung und Lehre unter dem Kuratel betriebswirtschaftlicher Denkmuster (S. 47–64). Wiesbaden: VS.

Reform der Reform

Gerade komme ich vom Forum der Lehre der TU München, das in diesem Jahr mit dem Titel „Reform der Reform“ überschrieben war. Zum Thema eingeladen war Dr. Peter Wex, der 30 Jahre lang als Jurist im Hochschulkontext tätig war, wie er mir im persönlichen Gespräch sagte, bevor er sich nochmals neu orientiert und die Arbeitsstelle für Bildungsrecht und Hochschulentwicklung an der FU Berlin gegründet hat. Seitdem beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der Bologna-Reform und blickt ein Stück weit hinter die zahlreichen Dokumente und politisch-systemischen Zusammenhänge, die sich seit der „wohl größten Bildungsreform seit Humboldt“ ergeben haben.

In seinem Vortrag in den sehr schönen Räumlichkeiten der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung hat er vor allem die Reformierungen seit den Bildungsstreiks 2009 beleuchtet, die bottom-up die „Reform der Reform“ eingeleitet haben dürften. In seinem mit vielen amüsanten Untertönen gespickten Vortrag hat Wex dann drei Aspekte der Bologna-Reform besonders herausgehoben: (1) die Prüfungsleistungen, (2) die Regelstudienzeit und (3) die Studierbarkeit. Sie alle stünden bei Bologna im Kern und seien auch Dreh- und Angelpunkt der Neuorientierung der Hochschulreform, die durch die Vorgaben von HRK/KMK angeregt wurden.

Der Vortrag über die drei Punkte war dabei für mich nicht neu, sodass ich den Kern jedes Punkts an dieser Stelle nicht wiederholen will. Überraschend war vielmehr, dass Steilvorlagen für alternative Assessment-Verfahren und für E-Learning vom Publikum nicht einmal im Ansatz aufgegriffen wurden. Vielmehr stand die „Workload-Illusion“ im Zentrum der anschließenden Diskussion, also wie sich der Workload über das Semester bzw. ein Studienjahr verteilt und dass man bestimmte Leistungen von Studierenden durchaus einfordern kann. Aus meiner Sicht wurde Wex hier falsch verstanden, denn seine Rechnung, wonach Studierende im Studienjahr 1.800 Stunden für ihr Studium aufbringen müssten (60 Leistungspunkte à 30 Stunden), ist formal richtig und spricht etwas an, was ich auch beobachte: In vielen Bachelor- und Masterstudiengängen werden die meisten Prüfungsleistungen innerhalb der Vorlesungszeit erbracht. Allein die eine oder andere Hausarbeit kann erst später abgegeben werden. Dies führt dazu, dass Workloads zu großen Teilen in weitaus weniger Zeit erfüllt werden müssen, als dies formale Rechnungen über ein Jahr verteilt vorsehen. Konsequenz ist: Die Studierenden sind gestresst angesichts des Pensums, das sie zu leisten haben.

Über alternative Assessment-Formen, die diese Überforderung abmildern könnten und etwa den Lernprozess in die Bewertung einbeziehen, wird dagegen nur selten diskutiert; auch E-Learning als Möglichkeit, Selbststudium und Gruppenlernen zu unterstützen, wird im Prinzip nicht mitgedacht – was daran liegen mag, dass man auf diese Weise auch Präsenzlehre grundsätzlich „anders als sonst“ aufziehen müsste. Dies ist aus meiner Sicht der nach wie vor präsenten instruktionsorientieren Einstellung der meisten Lehrenden zu schulden. Insofern bin ich etwas ernüchtert aus dem Vortrag gegangen, der mit dem Aufstand des (Studierenden-) Volks und seiner Wirksamkeit an sich so gut begonnen hatte.

Gelesen: Leitlinien für die Weiterentwicklung des Bologna-Prozesses

Seit dem 7. Juni 2010 gibt es für das Land Bayern Leitlinien für die Weiterentwicklung des Bologna-Prozesses. Solche Leitlinien, die von der Politik herausgegeben werden, sind in der Regel gestaltungsleitend und insofern wichtig, aber inhaltlich doch so vage, dass viele Aspekte für die Implementierung oder Weiterentwicklung von Studiengängen offen bleiben. Auf der einen Seite ist das gut, weil sich Gestaltungsspielräume für die einzelne Hochschule ergeben, auf der anderen Seite tun sich so von Beginn an Lücken auf, die man später mühevoll mit Qualitätssicherungsprozessen kitten will/muss. Interessant finde ich den diesjährigen Leitfaden trotzdem und zwar aus einem ganz anderen Grund: An ihrer Entwicklung waren dieses Mal eine Reihe an Personen beteiligt und unter ihnen auch Studierendenvertreter. Es gibt zwar einen regelmäßigen Austausch zwischen dem bayerischen Wissenschaftsministerium und der Landesastenkonferenz, soweit ich das aus meiner StuRa-Zeit weiß, aber dass ein Dokument mit dem Titel „Leitlinien“ daraus resultiert, ist doch selten und vermutlich eine Konsequenz der bundesweiten Bildungsstreiks seit 2009. Eine schöne Entwicklung, wie ich finde. Auch inhaltlich nimmt die Mitwirkung von Studierenden zur Verbesserung der Studienbedingungen in Zeiten von Bologna einen gewichtigen Stellenwert ein. Darüber hinaus sollen Studierende künftig auf allen Ebenen (Lehrveranstaltung, Studiengang, Hochschule als Ganzes) mehr „Stimme“ erhalten. Insofern kommt der Qualitätssicherung und -verbesserung anhand von Evaluationen ein hoher Stellenwert zu (Vorschläge zur Bewältigung der Ressourcenengpässe werden allerdings nicht unterbreitet ;-)).

Darüber hinaus wird nochmals formuliert, wie man Kompetenzorientierung innerhalb von Studiengängen erreichen und damit eine zentrale Forderung von Bologna 1999 umsetzen kann. Die Entwicklung von Problemlösefähigkeiten nimmt darin einen besonderen Stellenwert ein, was die Relevanz von Lösungen wie unserem Begleitstudium Problemlösekompetenz und dessen Verstetigung betont. Wichtig finde ich auch den Hinweis, dass die Kompetenzorientierung stets den Qualifikationsebenen des Studiengangs entsprechen soll. Hier wird allerdings nur zwischen Bachelor und Master unterschieden, nicht zwischen den Studienphasen, in denen sich die Studierenden innerhalb eines Studiengangs befinden. Was allerdings Erwähnung findet, sind die Prüfungsformen: nicht die „bloße“ Zahl, aber immerhin die Eignung der Prüfungsformen im Hinblick auf das zu erreichende Lern- und Kompetenzziel.

Mir persönlich sind noch die Anwesenheitspflichten ins Auge gefallen, da wir öfters darüber diskutieren, wie viel Präsenz man von Studierenden verlangen kann und ob man ihre Anwesenheit vor Ort überprüft. Immerhin seien es erwachsene Menschen, die selbst über Präsenz oder Abwesenheit entscheiden könnten. Ich bin daher mit der Formulierung in den Leitlinien ganz glücklich, wo es heißt: „Anwesenheitspflichten prüfen und auf notwendige Fälle reduzieren“ (S. 7). Das gibt uns ein Stück weit recht, an wichtigen Veranstaltungstagen Anwesenheit vorauszusetzen und dies auch zu kontrollieren; gleichzeitig gibt es Spielräume für das Fehlen, was ja nicht zwingend Schwänzen bedeuten muss. Oftmals überschneiden sich Termine an der Hochschule selbst, da diese kaum untereinander koordiniert werden.

Alles in allem lohnt sich also ein Blick in das Papier – es ist nicht allzu lang und zeigt, wie sich die Bologna-Reform inzwischen selbst reformiert.

"Praxis als eigenständiges Lernfeld begreifen"

Seit einer ganzen Weile wollte ich schon auf einen Themenschwerpunkt hinweisen, den das Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) in der BWP-Ausgabe 2/2010 anbietet. Dieser nennt sich „Bachelor und Berufsbildung“ und beinhaltet, wie man es sich bereits denken kann, aktuelle Überlegungen zur Bologna-Reform. Leider sind die aktuellen Hefte kostenpflichtig, sodass ich bisher nur auf Ausführungen von Fritz Böhle verweisen kann, die er uns (d.h. den Mitgliedern des Netzwerks Ökonomie & Bildung e.V.) dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. In seinem Aufriss des Themenfelds fragt er: „Kann die höhere Bildung von der beruflichen Bildung lernen?“ Da ich selbst eine Berufsausbildung absolviert habe (Industriekauffrau), finde ich diese Frage naturgemäß sehr spannend und halte sie angesichts des typischen Vorwurfs an die Bologna-Reformen, eine Ausbildungsgesellschaft zu produzieren (siehe dazu auch ein etwas älteres Essay von Preisendörfer), für durchaus aktuell.

Nun versucht Böhle in seinen Überlegungen die Brücke zu schlagen zwischen dem, wie man in der (dualen) Ausbildung lernt und dem, was Ziel eines universitären Studiums sein soll. Eingangs betont er dabei, dass „[d]ie Forderung nach mehr Anwendungsbezug höherer Bildung beispielsweise im Rahmen der Umstellung auf Bachelorstudiengänge […] nicht schlicht dadurch einlösbar [ist], dass allgemeines, wissenschaftlich begründetes Wissen auf bestimmte Anwendungsbereiche hin konkretisiert und spezifiziert wird“ (ebd., S. 6). Im Gegenteil: Vielmehr sei es wichtig, wissenschaftlich begründbares Wissen um solches Wissen zu ergänzen, was zur Re-Kontextualisierung von Fachwissen befähige und über Disziplinenwissen hinausgehe.

Diesem Kontext- oder auch Handlungswissen wird in der beruflichen Bildung seit längerer Zeit hohe Bedeutung zugemessen (z.B. im Rahmen der Kompetenzdebatte), sodass sich der Seitenblick der höheren (akademischen) Bildung auf die Berufsbildung durchaus lohnt und sich für die höhere Bildung ergibt: „An die Stelle einer immer stärker anwendungsorientierten Ausrichtung höherer Bildung müsste das Schwergewicht eher auf einer Ergänzung durch die Konfrontation mit konkreten Problemstellungen in der Praxis liegen.“ (ebd., S. 7) Um auch für den Wissenschaftsbetrieb entsprechende Relevanz zu erreichen, komme dem Prozess der Objektivierung und der Reflexion eine entsprechend hohe Rolle zu.

Nimmt an diese Überlegungen zum Ausgang, ist es nicht weiter verwunderlich, dass dem Erfahrung-Machen innerhalb und außerhalb der Institution Hochschule ein höherer Stellenwert beigemessen wird. Interessant und insofern anders als in gängigen Publikationen zum Kompetenzerwerb in Bachelorstudiengängen ist allerdings der Schluss, der hieraus gezogen wird: Nach Ansicht von Böhle geht es nicht darum, universitäre Lehre praxisorientierter zu gestalten. Vielmehr fordert er ein, „die“ Praxis als eigenständiges Lernfeld zu begreifen, um das erfahrungsgeleitete Lernen an der Hochschule zu fördern und gleichzeitig die Kernmerkmale von Hochschule beizubehalten, denn: „Der von Unternehmen und Politik geäußerte Wunsch, durch das Studium dem Arbeitsmarkt möglichst passgenau berufliche Qualifikation zur Verfügung zu stellen, ist im Rahmen des Lern- und Bildungsorts Hochschule nicht möglich und verkennt zugleich dessen zentrale Aufgabe und Möglichkeit: die Vermittlung wissenschaftlich fundierten Wissens sowie die Entwicklung von Reflexionsfähigkeit und der Fähigkeit zu wissenschaftlich orientierter Analyse.“ (ebd., S. 9)

Wer sich intensiv mit den Reformen von Bologna auseinandersetzt, dem sei die Lektüre des gesamten Artikels empfohlen; die Ausführungen sind mitunter komplex, aber dennoch sehr gut nachvollziehbar. Natürlich könnte man jetzt neue „Fässer“ aufmachen, nämlich z.B. die Frage stellen, ob die duale Ausbildung tatsächlich ein System mit Vorbildcharakter sei. Dieses Fass möchte ich aber nicht aufmachen – nur so viel sei gesagt: Das duale System funktioniert prinzipiell gut und aus meiner Sicht müsste man – im Falle der Übertragung der zentralen Prinzipien auf die Hochschule – vor allem eine gute Anbindung beider Kontexte (Theorie/Praxis) gewährleisten. Hierzu wäre die Hochschule mit den ihr innewohnenden Akteuren prinzipiell in der Lage, dennoch müsste auf Seiten der Lehrenden (wie auch auf Seiten der Studierenden) wohl einiges an Umdenken stattfinden. Denn Konflikte um das Verhältnis von Theorie und Praxis an der Hochschule sind ja nicht gerade neu oder erst mit Bologna auf den Tisch gekommen.

Böhle, F. (2010). Kann die höhere Bildung von der beruflichen Bildung lernen? Die Verbindung von institutionalisiertem Lernen und praktischen Tun eröffnet neue Lernfelder und -orte. BWP, 2010 (2), 6-9.

Gelesen: Theorie der Unbildung

Es ist schon wieder ein paar Tage her, dass ich die „Theorie der Unbildung“ (2006/2009) von Konrad Paul Liessmann gelesen habe, aber irgendwie lässt mich das Buch nicht los. Denn seine süffisante Art hat mir immer wieder ein Schmunzeln entlockt. Und mir auch gezeigt, wie gut man Probleme im Bereich Bildung in einfacher Sprache aufzeigen und damit mehrheitstauglich machen kann. Besonders amüsant finde ich das Einstiegskapitel „Wer wird Millionär oder: Alles, was man wissen muß“. Lustig ist der Einstieg deshalb, weil die Wissensshows im Fernsehen einfach kein Ende nehmen wollen und ich immer noch eine Reihe von Leuten kenne, die diese Shows lieben. Irgendwas muss daher an den Shows dran sein… oder? Dies ist schließlich auch der Grund, warum manch Lehrer die Wissensshow zum Anlass nimmt, anhand von gewitzt formulieren, Multiple-Choice-Fragen wieder Schwung in den Unterricht zu bringen. Liessmann bringt die Verquertheit eines solchen Umgangs angesichts des sonst vorherrschenden Versuchs, Faktenwissen (zumindest teilweise) abzulösen, auf den Punkt:

„So macht nicht nur Lernen, sondern auch Prüfen wirklich Spaß, und durch die Hintertür eines Medienereignisses gelangt das lange verpönte Abfragen beziehungslos nebeneinander stehender Daten, Fakten und Bedeutungen wieder in den Unterricht.“ (ebd., S. 16)

Im Folgenden erläutert er dann, was Wissensshows mit dem heutigen Zustand von Bildung zu tun haben:

„Formate wie die Millionenshow indizieren den Stand der Bildung auf der Ebene der massenmedialen Unterhaltung: als eine Erscheinungsform der Unbildung.“ (ebd., S. 17)

Ausgehend von Wer wird Millionär (oder der Millionenshow, wie es in Österreich heißt), macht sich Liessmann auf die Suche nach der (neo-)humanistischen Idee der Allgemeinbildung und muss (leider) konstatieren, dass diese zugunsten der Ökonomie und den Naturwissenschaften eher vernachlässigt wird (eine Erkenntnis, die wohl fast alle Geistes- und Sozialwissenschaftler teilen können). Ähnlich kritisch betrachtet er heutige Bildungsziele (insbesondere die Kompetenzorientierung in der Bildung) sowie die Art und Weise, wie Lernergebnisse als Outcome von Bildung gemessen werden. In Anlehnung an Nietzsche formuliert er:

„Eine Schule, die aufgehört hat, ein Ort der Muße, der Konzentration, der Kontemplation zu sein, hat aufgehört, eine Schule zu sein. Sie ist eine Stätte der Lebensnot geworden. Und in dieser dominieren dann die Projekte und Praktika, die Erfahrungen und Vernetzungen, die Exkursionen und Ausflüge. Zeit zum Denken gibt es nicht.“ (ebd., S. 62)

Bildung ist für ihn nicht mehr als ein „Sammelsurium von Kulturgütern“ (ebd., S. 68) und die „Distanz vom Geist“ (ebd., S. 72) letztlich Ausdruck von Unbildung: „Unbildung heute ist deshalb auch kein intellektuelles Defizit, kein Mangel an Informiertheit, kein Defekt an einer kognitiven Kompetenz […], sondern ein Verzicht darauf, überhaupt verstehen zu wollen.“ (ebd., S. 72)

Es gibt noch zig andere Stellen im Buch, die ich sehr geistreich finde – zwei davon sind die hier:

  • mit Blick auf das Postulat der Vernetzung: „Wer etwa ständig von Vernetzung faselt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was er damit an Konformitätsdruck verkündet, mag dem Zeitgeist gehorchen, nicht aber dem Anspruch eines halbwegs souveränen Verstandes.“ (ebd., S. 72)
  • mit Blick auf den Wert von Evaluationen: „Die Idee neuzeitlicher Wissenschaft liegt in der Öffentlichkeit des vernünftigen Diskurses, liegt in der Möglichkeit der permanenten Kritik. Was ein Gedanke, eine Hypothese, eine Theorie, ein Fund, eine Beobachtung, ein Experiment taugen, erweist sich in der Auseinandersetzung mit Kritikern, erweist sich im Blick auf die Sache, um die es geht. Kaum ein Evaluator hat aber auch nur einen der Texte gelesen, die er evaluieren soll.“ (ebd., S. 101)

Die Ausführungen zur Bologna-Reform will ich an dieser Stelle aussparen, auch wenn sie sehr treffend sind; ich halte dieser Tage mehr davon, einen Blick auf die Bildungsproteste zu werfen und auf das, was bei Studierenden und bei Lehrenden in Punkto Bologna angekommen ist. Denn die kritischen Stimmen treffen im Kern genau das, vor dem Liessmann warnt: nämlich der Verschulung und der Ent-Wissenschaftlichung. Kein Wunder, dass er auch nur wenig von Elitenbildung und dem Ausbau von Eliteuniversitäten hält:

„Auch an Massenuniversitäten kann das Betreuungsverhältnis gut sein – vorausgesetzt, es gibt genügend Professoren; auch an Massenuniversitäten kann erstklassige Forschung betrieben werde, vorausgesetzt, die Belastung durch Lehre und Verwaltung wird angemessen verteilt und bei Bedarf delegiert; auch in der Massenuniversität haben begabte und eifrige Studenten die Möglichkeit, sich zu profilieren – vorausgesetzt, es gibt genügend Seminare, in denen sie auffallen können.“ (ebd, S. 129)

Das Buch bietet wirklich viele Facetten und noch eine Reihe an Themen, die ich hier nicht aufgeführt habe (z.B. Ausführungen zum Wissensbegriff, zur Ökologie des Wissens sowie zur Bedeutung von Sprache in Bildungsprozessen). Es endet schließlich mit damit, dass uns und unserer Zeit ein Spiegel vorgeführt wird:

„Bildung hatte einst mit dem Anspruch zu tun, die vermeintlichen Gewißheiten einer Zeit ihres illusionären Charakters zu überführen. Eine Gesellschaft, die im Namen vermeintlicher Effizienz und geblendet von der Vorstellung alles der Kontrolle des ökonomischen Blicks unterwerfen zu können, die Freiheit des Denkens beschneidet und sich damit die Möglichkeit nimmt, Illusionen als solche zu erkennen, hat sich der Unbildung verschrieben, wie viel an Wissen sich in ihren Speichern auch angesammelt haben mag.“ (ebd., S. 175)

Ich will keine Werbung machen, aber das Buch lohnt sich. Ihr könnt es Euch ja mal von mir ausleihen.

Quelle:

Liessmann, K.-P. (2006/2009). Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. 2. Auflage. München: Piper.