"Praxis als eigenständiges Lernfeld begreifen"

Seit einer ganzen Weile wollte ich schon auf einen Themenschwerpunkt hinweisen, den das Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) in der BWP-Ausgabe 2/2010 anbietet. Dieser nennt sich „Bachelor und Berufsbildung“ und beinhaltet, wie man es sich bereits denken kann, aktuelle Überlegungen zur Bologna-Reform. Leider sind die aktuellen Hefte kostenpflichtig, sodass ich bisher nur auf Ausführungen von Fritz Böhle verweisen kann, die er uns (d.h. den Mitgliedern des Netzwerks Ökonomie & Bildung e.V.) dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. In seinem Aufriss des Themenfelds fragt er: „Kann die höhere Bildung von der beruflichen Bildung lernen?“ Da ich selbst eine Berufsausbildung absolviert habe (Industriekauffrau), finde ich diese Frage naturgemäß sehr spannend und halte sie angesichts des typischen Vorwurfs an die Bologna-Reformen, eine Ausbildungsgesellschaft zu produzieren (siehe dazu auch ein etwas älteres Essay von Preisendörfer), für durchaus aktuell.

Nun versucht Böhle in seinen Überlegungen die Brücke zu schlagen zwischen dem, wie man in der (dualen) Ausbildung lernt und dem, was Ziel eines universitären Studiums sein soll. Eingangs betont er dabei, dass „[d]ie Forderung nach mehr Anwendungsbezug höherer Bildung beispielsweise im Rahmen der Umstellung auf Bachelorstudiengänge […] nicht schlicht dadurch einlösbar [ist], dass allgemeines, wissenschaftlich begründetes Wissen auf bestimmte Anwendungsbereiche hin konkretisiert und spezifiziert wird“ (ebd., S. 6). Im Gegenteil: Vielmehr sei es wichtig, wissenschaftlich begründbares Wissen um solches Wissen zu ergänzen, was zur Re-Kontextualisierung von Fachwissen befähige und über Disziplinenwissen hinausgehe.

Diesem Kontext- oder auch Handlungswissen wird in der beruflichen Bildung seit längerer Zeit hohe Bedeutung zugemessen (z.B. im Rahmen der Kompetenzdebatte), sodass sich der Seitenblick der höheren (akademischen) Bildung auf die Berufsbildung durchaus lohnt und sich für die höhere Bildung ergibt: „An die Stelle einer immer stärker anwendungsorientierten Ausrichtung höherer Bildung müsste das Schwergewicht eher auf einer Ergänzung durch die Konfrontation mit konkreten Problemstellungen in der Praxis liegen.“ (ebd., S. 7) Um auch für den Wissenschaftsbetrieb entsprechende Relevanz zu erreichen, komme dem Prozess der Objektivierung und der Reflexion eine entsprechend hohe Rolle zu.

Nimmt an diese Überlegungen zum Ausgang, ist es nicht weiter verwunderlich, dass dem Erfahrung-Machen innerhalb und außerhalb der Institution Hochschule ein höherer Stellenwert beigemessen wird. Interessant und insofern anders als in gängigen Publikationen zum Kompetenzerwerb in Bachelorstudiengängen ist allerdings der Schluss, der hieraus gezogen wird: Nach Ansicht von Böhle geht es nicht darum, universitäre Lehre praxisorientierter zu gestalten. Vielmehr fordert er ein, „die“ Praxis als eigenständiges Lernfeld zu begreifen, um das erfahrungsgeleitete Lernen an der Hochschule zu fördern und gleichzeitig die Kernmerkmale von Hochschule beizubehalten, denn: „Der von Unternehmen und Politik geäußerte Wunsch, durch das Studium dem Arbeitsmarkt möglichst passgenau berufliche Qualifikation zur Verfügung zu stellen, ist im Rahmen des Lern- und Bildungsorts Hochschule nicht möglich und verkennt zugleich dessen zentrale Aufgabe und Möglichkeit: die Vermittlung wissenschaftlich fundierten Wissens sowie die Entwicklung von Reflexionsfähigkeit und der Fähigkeit zu wissenschaftlich orientierter Analyse.“ (ebd., S. 9)

Wer sich intensiv mit den Reformen von Bologna auseinandersetzt, dem sei die Lektüre des gesamten Artikels empfohlen; die Ausführungen sind mitunter komplex, aber dennoch sehr gut nachvollziehbar. Natürlich könnte man jetzt neue „Fässer“ aufmachen, nämlich z.B. die Frage stellen, ob die duale Ausbildung tatsächlich ein System mit Vorbildcharakter sei. Dieses Fass möchte ich aber nicht aufmachen – nur so viel sei gesagt: Das duale System funktioniert prinzipiell gut und aus meiner Sicht müsste man – im Falle der Übertragung der zentralen Prinzipien auf die Hochschule – vor allem eine gute Anbindung beider Kontexte (Theorie/Praxis) gewährleisten. Hierzu wäre die Hochschule mit den ihr innewohnenden Akteuren prinzipiell in der Lage, dennoch müsste auf Seiten der Lehrenden (wie auch auf Seiten der Studierenden) wohl einiges an Umdenken stattfinden. Denn Konflikte um das Verhältnis von Theorie und Praxis an der Hochschule sind ja nicht gerade neu oder erst mit Bologna auf den Tisch gekommen.

Böhle, F. (2010). Kann die höhere Bildung von der beruflichen Bildung lernen? Die Verbindung von institutionalisiertem Lernen und praktischen Tun eröffnet neue Lernfelder und -orte. BWP, 2010 (2), 6-9.

Gelesen: Theorie der Unbildung

Es ist schon wieder ein paar Tage her, dass ich die „Theorie der Unbildung“ (2006/2009) von Konrad Paul Liessmann gelesen habe, aber irgendwie lässt mich das Buch nicht los. Denn seine süffisante Art hat mir immer wieder ein Schmunzeln entlockt. Und mir auch gezeigt, wie gut man Probleme im Bereich Bildung in einfacher Sprache aufzeigen und damit mehrheitstauglich machen kann. Besonders amüsant finde ich das Einstiegskapitel „Wer wird Millionär oder: Alles, was man wissen muß“. Lustig ist der Einstieg deshalb, weil die Wissensshows im Fernsehen einfach kein Ende nehmen wollen und ich immer noch eine Reihe von Leuten kenne, die diese Shows lieben. Irgendwas muss daher an den Shows dran sein… oder? Dies ist schließlich auch der Grund, warum manch Lehrer die Wissensshow zum Anlass nimmt, anhand von gewitzt formulieren, Multiple-Choice-Fragen wieder Schwung in den Unterricht zu bringen. Liessmann bringt die Verquertheit eines solchen Umgangs angesichts des sonst vorherrschenden Versuchs, Faktenwissen (zumindest teilweise) abzulösen, auf den Punkt:

„So macht nicht nur Lernen, sondern auch Prüfen wirklich Spaß, und durch die Hintertür eines Medienereignisses gelangt das lange verpönte Abfragen beziehungslos nebeneinander stehender Daten, Fakten und Bedeutungen wieder in den Unterricht.“ (ebd., S. 16)

Im Folgenden erläutert er dann, was Wissensshows mit dem heutigen Zustand von Bildung zu tun haben:

„Formate wie die Millionenshow indizieren den Stand der Bildung auf der Ebene der massenmedialen Unterhaltung: als eine Erscheinungsform der Unbildung.“ (ebd., S. 17)

Ausgehend von Wer wird Millionär (oder der Millionenshow, wie es in Österreich heißt), macht sich Liessmann auf die Suche nach der (neo-)humanistischen Idee der Allgemeinbildung und muss (leider) konstatieren, dass diese zugunsten der Ökonomie und den Naturwissenschaften eher vernachlässigt wird (eine Erkenntnis, die wohl fast alle Geistes- und Sozialwissenschaftler teilen können). Ähnlich kritisch betrachtet er heutige Bildungsziele (insbesondere die Kompetenzorientierung in der Bildung) sowie die Art und Weise, wie Lernergebnisse als Outcome von Bildung gemessen werden. In Anlehnung an Nietzsche formuliert er:

„Eine Schule, die aufgehört hat, ein Ort der Muße, der Konzentration, der Kontemplation zu sein, hat aufgehört, eine Schule zu sein. Sie ist eine Stätte der Lebensnot geworden. Und in dieser dominieren dann die Projekte und Praktika, die Erfahrungen und Vernetzungen, die Exkursionen und Ausflüge. Zeit zum Denken gibt es nicht.“ (ebd., S. 62)

Bildung ist für ihn nicht mehr als ein „Sammelsurium von Kulturgütern“ (ebd., S. 68) und die „Distanz vom Geist“ (ebd., S. 72) letztlich Ausdruck von Unbildung: „Unbildung heute ist deshalb auch kein intellektuelles Defizit, kein Mangel an Informiertheit, kein Defekt an einer kognitiven Kompetenz […], sondern ein Verzicht darauf, überhaupt verstehen zu wollen.“ (ebd., S. 72)

Es gibt noch zig andere Stellen im Buch, die ich sehr geistreich finde – zwei davon sind die hier:

  • mit Blick auf das Postulat der Vernetzung: „Wer etwa ständig von Vernetzung faselt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was er damit an Konformitätsdruck verkündet, mag dem Zeitgeist gehorchen, nicht aber dem Anspruch eines halbwegs souveränen Verstandes.“ (ebd., S. 72)
  • mit Blick auf den Wert von Evaluationen: „Die Idee neuzeitlicher Wissenschaft liegt in der Öffentlichkeit des vernünftigen Diskurses, liegt in der Möglichkeit der permanenten Kritik. Was ein Gedanke, eine Hypothese, eine Theorie, ein Fund, eine Beobachtung, ein Experiment taugen, erweist sich in der Auseinandersetzung mit Kritikern, erweist sich im Blick auf die Sache, um die es geht. Kaum ein Evaluator hat aber auch nur einen der Texte gelesen, die er evaluieren soll.“ (ebd., S. 101)

Die Ausführungen zur Bologna-Reform will ich an dieser Stelle aussparen, auch wenn sie sehr treffend sind; ich halte dieser Tage mehr davon, einen Blick auf die Bildungsproteste zu werfen und auf das, was bei Studierenden und bei Lehrenden in Punkto Bologna angekommen ist. Denn die kritischen Stimmen treffen im Kern genau das, vor dem Liessmann warnt: nämlich der Verschulung und der Ent-Wissenschaftlichung. Kein Wunder, dass er auch nur wenig von Elitenbildung und dem Ausbau von Eliteuniversitäten hält:

„Auch an Massenuniversitäten kann das Betreuungsverhältnis gut sein – vorausgesetzt, es gibt genügend Professoren; auch an Massenuniversitäten kann erstklassige Forschung betrieben werde, vorausgesetzt, die Belastung durch Lehre und Verwaltung wird angemessen verteilt und bei Bedarf delegiert; auch in der Massenuniversität haben begabte und eifrige Studenten die Möglichkeit, sich zu profilieren – vorausgesetzt, es gibt genügend Seminare, in denen sie auffallen können.“ (ebd, S. 129)

Das Buch bietet wirklich viele Facetten und noch eine Reihe an Themen, die ich hier nicht aufgeführt habe (z.B. Ausführungen zum Wissensbegriff, zur Ökologie des Wissens sowie zur Bedeutung von Sprache in Bildungsprozessen). Es endet schließlich mit damit, dass uns und unserer Zeit ein Spiegel vorgeführt wird:

„Bildung hatte einst mit dem Anspruch zu tun, die vermeintlichen Gewißheiten einer Zeit ihres illusionären Charakters zu überführen. Eine Gesellschaft, die im Namen vermeintlicher Effizienz und geblendet von der Vorstellung alles der Kontrolle des ökonomischen Blicks unterwerfen zu können, die Freiheit des Denkens beschneidet und sich damit die Möglichkeit nimmt, Illusionen als solche zu erkennen, hat sich der Unbildung verschrieben, wie viel an Wissen sich in ihren Speichern auch angesammelt haben mag.“ (ebd., S. 175)

Ich will keine Werbung machen, aber das Buch lohnt sich. Ihr könnt es Euch ja mal von mir ausleihen.

Quelle:

Liessmann, K.-P. (2006/2009). Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. 2. Auflage. München: Piper.