Impulsvortrag zur „Produktions- und Nutzungspraxis von freien Bildungsmaterialien jenseits digital-kapitalistischer Rationalitäten“

Im Rahmen der Tagung der Initiative „Bildung und digitaler Kapitalismus“ habe ich in der zurückliegenden Woche in Remscheid auf die eine oder andere Arbeit im Kontext von OER zurückgeblickt. Im Kern ging es mir um die Frage nach der Produktions- und Nutzungspraxis von freien Bildungsmaterialien jenseits digital-kapitalistischer Rationalitäten. Den zugehörigen Impulsvortrag stelle ich hier gerne zur Verfügung. (Download .pdf) Klasse finde ich auch, dass im Nachgang alle Impulse online zur Verfügung gestellt werden. Das bietet mir auch die Möglichkeit, den einen oder anderen auf der Tagung aufgeworfenen Gedanken nochmals nachzuvollziehen, weil ich leider nur kurz vor Ort anwesend sein konnte und mich wegen einer Disputation (im Übrigen zum Thema der leiblichen Ko-Präsenz) dann zugeschaltet habe.

Data-Driven Schools #CfP

Im Anschluss an den leider ausgefallenen DGfE-2020-Kongress und das „All is data (Aid)“-Projekt rufen wir – Mandy Schiefner-Rohs, Andreas Breiter und ich – zur Einreichung von Beiträgen zum Thema „Datengetriebene Schule“ (engl. Data-driven Schools) auf. Aus dem Call (dt. Fassung):

„Die Steuerung durch Zahlen (Grek 2009; Hartong 2016) genauso wie die Quantifizierung des Sozialen (Mau 2017) scheinen zu einem neuen Paradigma für die Bildungspolitik und Bildungsadministration geworden zu sein. (Inter-)Nationale Schulleistungstests, Schulinspektionen oder (Hochschul-)Rankings sind beispielhafte Formen einer Bildungssteuerung mit und durch Daten bzw. Zahlen (für die Schule z.B. Altrichter 2010). Während dabei bisher vor allem Daten über Lernende und deren Leistungen erzeugt werden, werden im Zuge der Digitalisierung weitere Datenquellen explizit oder implizit erschlossen: Denken wir nur an Lernsoftware, die oft als explizite Datenquelle für Forschung und Praxisgestaltung dient, oder an die impliziten «digitalen Spuren» (engl. digital footprints oder traces), die wir alle in Softwareprodukten hinterlassen und die prinzipiell von unterschiedlicher Seite erschlossen werden können. Werden Datensätze miteinander verbunden, spielen häufig Learning Analytics vor dem Hintergrund der Diskussionen um Individualisierung und Digitalisierung eine Rolle – wenngleich diese Tendenz im pädagogischen Umfeld mithin kritisch betrachtet wird (u.a. Büching et al. 2019; Allert, Asmussen und Richter 2018). All diese Entwicklungen spielen sich im Rahmen der durch ‹Digitalität› geprägten Gegenwart ab, die sich durch spezifische normative Setzungen, Machtkonstellationen und letztlich veränderte Rahmenbedingungen pädagogischen Handelns auszeichnet. Optimierung erscheint hier als ein tief in der ‹Digitalität› verwurzeltes Prinzip, welches eine erziehungswissenschaftliche Perspektive herausfordert, indem Gegenstandsbereich und Forschungspraxis, aber auch Handlungskonzepte unmittelbar von Transformationsprozessen betroffen sind.

Alle genannten Beispiele zielen letztlich auf eins: auf die Optimierung des Lehrens und Lernens durch Daten, Zahlen und jüngst Algorithmen. Der Begriff der Datafizierung nimmt deswegen im Diskurs diese Zielperspektive auf. Er legt mit aller Kraft offen, was unter den sichtbaren Tendenzen in der Bildung, insbesondere aber im Kontext Schule unter Daten verstanden wird: So ist mit der Digitalisierung dort einerseits ein verdichteter, hochkomplexer Prozess der Kommunikation und Interdependenzbewältigung von Menschen in ihren Handlungskontexten festzustellen. Das Soziale selbst wird darin zur Objektivation kommunikativen Handelns (Knoblauch 2017) und stellt sich in hohem Masse datenbasiert und/oder -gesteuert dar. Andererseits entstehen durchaus neue datenbasierte Praktiken, die sich in Schulen im Speziellen und in Bildungsorganisationen im Allgemeinen analysieren, beschreiben, beobachten und reflektieren lassen. Darüber hinaus werden Daten als Referenzpunkte für individuelle oder gemeinsame, für implizite oder explizite Entscheidungen immer häufiger automatisch erzeugt, sodass das Soziale auf einzelne Datenpunkte, Zahlen- respektive Schwellenwerte und/oder Indizes zugespitzt wird. Prietl und Houben (2018) sprechen aufgrund dieser offensichtlichen Reduktion von Komplexität gar von einer Datengesellschaft.

Aus medienpädagogischer Sicht werden mit Daten, Zahlen und Algorithmen diverse Forschungsperspektiven aufgeworfen sowie Gestaltungsfragen insbesondere an den Kontext Schule gestellt. Sie siedeln sich an in den Bildungsorganisationen selbst, indem beispielsweise nach den konkreten Angebotsstrukturen und Massnahmen im Umgang mit der Datengesellschaft in der Schule gefragt wird. Sie werfen Fragen nach interdisziplinärer Forschung und Entwicklung im Schulkontext auf, wenn erst das Zusammenspiel von (Medien-)Pädagogik und Informatik Forschungsfragen im Feld beantworten lässt (u.a. Breiter und Jarke 2019). Es deuten sich zudem vielfältige Anlässe für Kooperationen, aber auch für Abgrenzungen zwischen Politik, Verwaltung, Bildungsorganisationen und den Menschen sowie zwischen Datenproduktion und -konsum an (vgl. Hartong 2016). (Inter-)national lässt sich an der wachsenden Bedeutung sozialer Vermessungspraktiken, Datafizierung und Algorithmen im Bildungssektor anschliessen (z.B. Boyd und Crawford 2012; Espeland und Stevens 2008; van Dijk 2014; Kitchin 2016; Selwyn 2016; Knox et al. 2019).

Daten, so viel lässt sich bis hierhin aus dem Diskurs festhalten, beschreiben nicht nur soziale Wirklichkeiten – sie erschaffen oder verändern diese infolge ihrer blossen Verfügbarkeit oder der Orientierung daran. So lässt sich schon jetzt eine Verhaltenssteuerung durch Algorithmen beobachten (z.B. Manolev, Sullivan, und Slee 2019), die ebenfalls (nicht nur) medienpädagogisch zu reflektieren ist. Software bzw. Dateninfrastrukturen sind entgegen naiver Annahmen nicht neutral – es werden soziale Relationen und Ungleichheiten darin technisch eingeschrieben (Dalton und Thatcher 2014; Fuller 2008; Kitchin und Lauriault 2014; Lachney, Babbitt und Eglash 2016, Hartong 2020).“ (Auszug aus dem Call)

Der vollständige Call ist unter medienpaed.com verfügbar. Wir freuen uns auf Beitragsvorschläge bis zum 31.7.2020.

Das Warten hat sich gelohnt

Wer selbst einmal ein Buch herausgegeben hat, weiß sehr genau, wie lange sich die Herausgabe manchmal ziehen kann. Ich freue mich daher sehr, dass in diesen Tagen (endlich) das Buch „Medien, Bildung und Wissen in der Hochschule“ von Andreas Weich, Julius Othmer und Katharina Zickwolf erschienen ist. Es ist im Nachgang der Verflechtungen-Tagung 2015 (ehem. CfP) an der TU Braunschweig entstanden. Der Tagungsbezug und das Wissen um diverse Verflechtungen von Medien an der Hochschule führt sicherlich auch zu diesem leicht ungewöhnlichen inhaltlichen Zuschnitt des Buchs. Weil Fragen von Medien aber längst querliegend an Hochschulen bearbeitet werden, liegt darin m.E. auch der größte Wert des Bandes. So findet sich im Buch eine (m.E.) ungewöhnliche Kombination von Beiträgen, die größtenteils fach- und diskursübergreifend gestaltet sind.

Zusammen mit Mandy Schiefner-Rohs habe ich für diesen Band einen Essay zu „prägenden Kräften“ beigesteuert. Wir haben die Form des Essays bewusst gewählt, um – wie es die Hrsg. formulieren – explorative Überlegungen mit hochschulischem und gesellschaftlichem Bezug darzustellen. Konkret beschäftigen wir uns im Text damit, wie derzeit über Medien an Hochschulen nachgedacht wird und welche expliziten und impliziten Vorstellungen bzw. Diskurslinien darin sichtbar werden. So fragen wir uns angesichts der vielfältigen öffentlichen Debatten um Digitalisierung, ob das Internet eigentlich gerade erst erfunden wurde. Auch geben wir den Tipp, einmal Kolleg*innen zu fragen, was sie unter E-Learning verstehen. Wir vermuten, darunter wird oft gleichlautend das hiesige LMS verstanden. Und ja, wir beschäftigen uns auch mit dem Zusammenhang der Studienstrukturreformen von Bologna und der gegenwärtigen Lesart von Digitalisierung an Hochschulen, insbesondere der Hochschullehre. Insofern geht es im Essay auch um neues-altes Lernen und eine dringend nötige differenzierte Auseinandersetzung mit Medien/Technologien diesseits und jenseits schicker Begrifflichkeiten.

Auf Anregungen, Kommentare und gemeinsames Weiterdenken der manchmal sehr ernst gemeinten Ausführungen freuen wir uns sehr.

Kurztrip: ExpertInnenforum Hochschuldidaktik an der FHOÖ in Linz

Die Bezeichnung „Kurztrip“ trifft es wohl am besten, wenn jemand (ich) morgens in Köln in den Zug nach Linz (Österreich) steigt, dort abends an der FH Oberösterreich einen Vortrag hält und wg. zahlreicher Folgetermine abends mit dem Nachtzug zurück nach Köln fährt. Über Kurztrips dieser Art können wahrscheinlich viele Wissenschaftler*innen berichten. Inhaltlich war der Ausflug aber sehr interessant, ging es doch in diesem Jahr im ExpertInnenforum Hochschuldidkatik explitzit um Digitalisierung. Als letzte von drei Vorträgen – mindestens einer davon war sehr kritisch – habe mich dazu entschieden, ein kommentierendes Format zur Erläuterung aktueller Digitalisierungstendenzen zu wählen. Weil der Vortrag nun auf YouTube zur Verfügung steht, verlinke ich diesen a) gerne und würde mich b) über Anschlussdiskussionen über Facetten der Digitalisierung an dieser Stelle freuen.

Wer zentrale Thesen lieber nachliest, dem seien folgende beiden Quellen empfohlen:

  • Pensel, S. & Hofhues, S. (2017). Digitale Lerninfrastrukturen an Hochschulen. „You(r) Study“. http://your-study.info/wp-content/uploads/2017/11/Review_Pensel_Hofhues.pdf (13.12.2017)
  • Schiefner-Rohs, M. & Hofhues, S. (2017). Prägende Kräfte. Medien und Technologie(n) an Hochschulen. In J. Othmer, A. Weich & K. Zickwolf (Hrsg.), Medien, Bildung und Wissen in der Hochschule (S. 239-254). Springer: VS.

Lesenswert: „Halbmedienkompetenz“

Viel zu selten verweise ich im Blog noch auf Fundstücke, die ich lesenswert finde. In diesem Fall will ich es aber doch machen, nämlich auf den Beitrag zur „Halbmedienkompetenz“ von Thomas Damberger. Der Autor nimmt in Anlehnung an Adornos (2006) Wortschöpfung der Halbbildung grundlegend an, „(…) dass wir bei unserem Vorhaben, Menschen zu einem kompetenten Umgang mit Medien zu führen, in der großen Gefahr stehen, sie zur Halbmedienkompetenz zu verführen. … Und die Hälfte, um die es mir geht, ist die kritische Dimension“ (Damberger, 2013, S. 2).

Am Beispiel problemorientierter Konzeptionen im Bereich Medien wird diese Grundannahme deutlich:
„Ein Problem, das es zu lösen gilt, muss als Problem erkannt werden. Lediglich zu lernen, wie man Probleme löst, die andere vorgeben, erinnert an eine naturwissenschaftliche Vorstellung von Kompetenz und ist weit davon entfernt, einen Menschen zu befähigen, in Situationen Probleme als solche (für sich) zu bestimmen. Im Gegenteil, eine solche Kompetenz ist affirmativ, also das Gegenteil von Kritik.“ (ebd., S. 3)

In der Diskussion stellt der Autor heraus, dass mediale Handlungspraktiken nicht nur von Fähigkeiten des Einzelnen bestimmt werden, sondern insbesondere von seinem Willen zur Auseinandersetzung mit/über Medien abhängen. Auch illustriert er, dass Medien häufig eigene Probleme „praktisch werden lassen“ (ebd., S. 4) und Angst im Umgang mit Medien darin begründet liegen bzw. daraus resultieren könnte. Unter didaktischen Gesichtspunkten ist zu ergänzen, dass daran vor allem funktionale, meist eindimensionale Konzepte zur Entwicklung (technisch-instrumenteller) Medienkompetenzen anschließen. Dieser Perspektive sei aber keine pädagogische Sichtweise inhärent, sondern allenfalls ein naturwissenschaftlicher Kompetenzbegriff (ebd., S. 2). Werde aber Mündigkeit als Bildungsziel anvisiert, müsste nach Ansicht Dambergers (2013) „[d]em ‚Freisein-von‘ […] ein ‚Freisein-für‘ gegenüberstehen, und dieses Andere der Autonomie ist nichts Geringeres als ihr Ziel, man könnte auch sagen: ihre regulative Idee“ (ebd., S. 7).

Ausgehend von dieser normativen Grundannahme kommt der Autor zu folgendem Schluss:
„Wenn die kritische Dimension von Medienkompetenz in der Medienmündigkeit liegt und Mündigkeit einer die Menschlichkeit bedenkenden und evozierenden Bildung bedarf, dann ist derjenige, die über die kritische Dimension der Medienkompetenz nicht verfügt und damit halbmedienkompetent ist, im pädagogischen Sinne medieninkompetent.“ (ebd., S. 7)

Fazit. Der Beitrag greift insgesamt ein höchst aktuelles Charakteristikum derzeitiger Konzeptionen von Medienkompetenzen auf: nämlich die grundsätzlich zu begrüßenden Förderbemühungen im Kontrast zu aktuellen Umsetzungsbeispielen, die sich nicht nur durch eine didaktisch vermittelnde Position auszeichnen, wie Sesink (2008, S. 13f.) sie nennt, sondern mit der Dimension der Medienkritik zugleich einen wesentlichen Bereich eines kompetenten Umgangs mit Medien unterschlagen. Diese Auslassung mag vielleicht nicht gleich zu einer „Halbmedienkompetenz“ führen, wohl aber zu einer konzeptionellen Schieflage im Mainstream mediengestützten Lehrens und Lernens, die für alle Bildungskontexte bedenkenswert ist.

Literatur

  • Adorno, T. W. (2006). Theorie der Halbbildung (Erstauflage: 1959). Frankfurt: Suhrkamp.
  • Damberger, T. (2013). „Halbmedienkompetenz?“ – Überlegungen zur kritischen Dimension von Medienkompetenz. medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik. http://www.medienimpulse.at/articles/view/496
  • Sesink, W. (2008). Bildungstheorie und Medienpädagogik – Versuch eines Brückenschlags. In J. Fromme & W. Sesink (Hrsg.), Pädagogische Medientheorie (S. 13–35). Wiesbaden: VS.